Ansprache von Dieter Simon

Die folgende Rede hat Dieter Simon, der damalige Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), am 30. Juni 2000 anlässlich der Gründung der Jungen Akademie vorgetragen.

Diese und die anderen Reden zu diesem Anlass sind im Jahrbuch der BBAW 2000 dokumentiert. Das Jahrbuch kann bei der BBAW heruntergeladen oder als Sonderdruck über die Geschäftsstelle der Jungen Akademie bezogen werden.

Dieter Simon:

Sitten und Gebräuche werden nicht gestiftet. Sie entstehen. Fragt man sich später nach ihrer Herkunft, stößt man fürs erste ins Leere. Eine irritierende Leere, die sich über kurz oder lang mit Mythen füllt. Mythen erzählen dann die Geschichte eines Anfangs, der keiner war.

Institutionen und Anstalten sind rationaler gewirkt. Sie werden gegründet. An ihrem Beginn steht meistens eine Eingebung, eine, wo auch immer auf- oder angelesene "Idee", wie man sich angewöhnt hat zu sagen. Die "Idee" bewahrt eine Einrichtung nicht unbedingt vor Gründungsmythen. Aber sie ist leichter überprüfbar.

Um allen Spekulationen, Geschichtsklitterungen und Mythologemen vorzubauen, erzähle ich heute erstmals, nüchtern, verbindlich und öffentlich, vor zahlreichen Zeugen, die Geschichte der Gründungsidee der "Jungen Akademie". Das scheint mir zugleich die beste Art zu sein, um ihre heute anstehende Taufe angemessen zu begehen.

Die Idee stammt allein und ausschließlich von Paul Baltes, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, und mir lange freundschaftlich verbunden. Die Junge Akademie hieß in seiner Sprache noch "Nachwuchsakademie" und wurde mir in einem Telefonat eher beiläufig schmackhaft gemacht. Wie immer in solchen Fällen bat ich höflich um ein Papier, um mich nicht festzulegen und durch Aufschub einer Stellungnahme vor dem gefürchteten Treppenwitz zu bewahren, jenen Weisheiten, die einem erst nach der Audienz auf dem Heimweg einfallen.

Ich erhielt das Papier in der Fassung vom 8. September 1996 mit dem lakonischen Beischreiben, es entweder zu übernehmen oder zu verändern oder wegzuwerfen. Ersteres schien mir zu unselbstständig, letzteres zu selbstständig – also machte ich mich an die Arbeit und legte am 19. September 1996 der Akademie - "Kommission 2000", das war eine Initiativgruppe, welche die Feier unseres 300-jährigen Bestehens vorbereiten sollte, einen mit Baltes und Simon unterzeichneten ersten Entwurf zur Beratung vor.

Dieses Papier war das Ei, aus dem nach vielen und komplizierten Beratungen innerhalb der Akademie schließlich das Küken hervorkroch, das zu bestaunen wir uns heute hier versammelt haben.

Die leitenden Vorstellungen waren ganz einfach.

Wir haben den Eindruck, dass das deutsche Wissenschaftssystem in herausragender Weise altersfreundlich ist – ein Sachverhalt der durch die Akademien in gewisser Weise symbolisiert wird und gegen den vor allem wir Älteren keine besonderen Vorbehalte hegen. Aber wir können und dürfen nicht übersehen, dass unser Privileg sich gegen die Wissenschaftlerkarrieren der Jüngeren zu wenden droht. Die Entfaltung des Nachwuchses wird verlangsamt. Er wird zu spät selbständig und zu lange gerontokratisch beherrscht oder paternalistisch betreut. In der geistigen Blüte seiner Jahre hat er nur wenig Möglichkeiten sich autonom und institutionell abgesichert in den Wissenschaftsprozess einzubringen und diesen – und damit seine Zukunft! – mitzugestalten. Er hat die Zukunft und wir verwalten sie – wie Jürgen Mittelstraß das formuliert.

Demnach müsste es geradezu die Pflicht einer etablierten und selbstkritischen Akademie sein, sich der Gründung einer Akademie der Jungen anzunehmen. Sie könnte ein erster und bescheidener Versuch sein, wenigstens an einem Punkt bestehende Mängel zu kompensieren. Und dies in dreierlei Hinsicht:

  1. Die Akademiegestalt als Förderungsform hebt die traditionelle Einzelförderung jüngerer Forscher auf die Ebene einergeförderten Gemeinschaft. Hierdurch sollte eine eigenständige wissenschaftspolitische Kraft entstehen, die das fehlende vernunftgeleitete Zwiegespräch zwischen den Generationen über die Zukunft der Wissenschaft auf den Weg bringen könnte. Ein elitäres Scharnier zwischen den auf die Wissenschaft erst noch Zuwachsenden einerseits und den schon wieder langsam aus ihr Heraustretenden andererseits.

  2. Die Chancen etablierter Akademien bestehen heute vor allem in der institutionalisierten Möglichkeit, die unausweichliche und unverzichtbare Spezialisierung systematisch im interdisziplinären Diskurs aufzubrechen. Einer jüngeren Generation wird trotz ihres vermutlich andersartigen Zugangs zu den wissenschaftlichen Gegenständen und Methoden dieser Diskurs nicht erspart bleiben, wenn anders sie zu einer konvergenten wissenschaftlichen Kommunikationsbasis und einem schnelleren Methodentransfer gelangen will. "Die Junge Akademie" sollte der Ort für die Einübung dieser Dialogfähigkeit sein.

  3. "Die Junge Akademie" sollte schließlich kraft ihrer Einrichtung als Korporation und ihrer potentiellen Translokalität jene Gemeinschaft sein, die auf der Ebene von Nachwuchswissenschaftlern das internationale Wissenschaftlergespräch stellvertretend für Deutschland führt.

Von diesen Überlegungen ließ sich auch Benno Parthier überzeugen, anregen und anstecken, als wir wieder einmal darüber berieten, wie wir es schaffen könnten, eine schon vor einigen Jahren verabredete, enge – wenn ich ein Politiker wäre, würde ich sagen: "brutalst-enge" – Zusammenarbeit zwischen der Leopoldina, der Deutschen Akademie der Naturforscher mit dem Gründungsjahr 1652 und der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu forcieren. Wir fanden zu der Überzeugung, dass es mehr sein würde als eine symbolische Gebärde, wenn die beiden ältesten deutschen Akademien sich zu einer experimentellen Aktion an jener Stelle zusammenschlössen, wo nach allgemeiner Ansicht unserem Wissenschaftssystem ein besonderes Defizit eignet: bei der Förderung junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwischen Promotion und Professur – vor allem dann, wenn der Verdacht nicht ganz ungerechtfertigt scheint, es könne sich um junge Eliten handeln. Wir glaubten, zeigen zu können, dass in den steinalten Akademien entgegen weit verbreiteter, aber natürlich grundfalscher Meinung, durchaus kein seniler, sondern ein jugendfrischer Wind weht und dass aus der Verbindung zweier betagter Partner am Ende ein flottes Duo werden kann.

Da uns die Häupter der mächtigen Wissenschaftsorganisationen der Bundesrepublik Beifall und die Präsidenten ausländischer Akademien Neid zuflüsterten, machten wir uns wohlgemut an das, was die Administrationen aller unserer schönen Bundesländer "Umsetzung" zu nennen pflegen, wobei am Anfang, wie vernünftig und billig, die Wallfahrt nach "Immer-noch-Bonn" zur (damals unlängst) gekürten Wissenschaftsministerin stand. Die hörte dem Vortrag aufmerksam zu, nickte huldvoll, lächelte fein und übernahm umstandslos die Schirmherrschaft, was den Umsetzungsarbeitern preziös in den Ohren schmeichelte – ganz wie das zarte Klingeln eines fernen goldenen Geschmeides.

Aber natürlich gibt es bei solcher Sache und zumal in der Hauptstadt der Vergangenheit viele Wirte, mit denen die Rechnung gemacht werden muss. Die entdecken dann bald, dass mit dem Gast noch über vielerlei Posten geredet werden müsse, dass hier noch etwas unklar gelagert und anderes dort doch ganz anders zu berechnen sei, dass drinnen zuviel und draußen zuwenig bestellt wäre, nicht alle Umstände berücksichtigt wurden und kurz gesagt und jedenfalls: dass sie für die Zeche nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres geradestehen könnten. Das war nicht sonderlich überraschend. Denn in der Wissenschaftsförderung geht es weithin zu wie im Bankgeschäft. Je kleiner der gewünschte Kredit, um so intensiver die Prüfung von Bonität und Dignität. Sie zieht sich noch immer hin. Aber Benno Parthier und ich sind optimistisch aus dreierlei Gründen:

  1. Das Unternehmen, für das wir werben, ist absolut neu, herausragend und vielversprechend, das heißt im Jargon der Wissenschaftspolitik: innovativ, exzellent und kreativ. Wenn anders es das Ziel staatlicher Förderung ist, vorwiegend, wenn nicht ausschließlich bei Projekten tätig zu werden, die diesen Kriterien genügen, dann sind hier die Vorgaben erfüllt.

  2. In Berlin wurde von einem cleveren ehemaligen Wissenschaftssenator der geniale Begriff "Bemühungszusage" populär gemacht. Er verspricht nichts, worauf man sich stützen möchte, gibt nichts, worein man beißen könnte, man hat nichts in der Hand und ist doch glücklich. Denn der Terminus sagt: "ich bin euch gewogen", "ich möchte euch fördern", "ich würde euch Geld geben, wenn ich es denn hätte" – fast meint er: "ich liebe euch alle". Von solchen Bemühungszusagen haben wir einen kleinen Sack voll. Worum viele sich mühen, sollte wenigstens einem gelingen.

  3. Schließlich haben wir aber dankenswerterweise auch noch die VolkswagenStiftung, die keine Bemühungszusage braucht, weil sie einen Generalsekretär hat, von dem bekannt und längst nachgewiesen ist, dass er die Wissenschaft in besonderem Maße liebt. Die Volkswagenstiftung hat sich in Gestalt ihres Kuratoriums kritisch über den vorgelegten Plan gebeugt und befunden, dass der Säugling zu verheißungsvoll strampelt, als dass man ihm jetzt die Nährmutter verweigern dürfe. Ohne die Stiftung säßen Junge und Alte Akademien jetzt freudlos in einem Bierkeller.

Die inhärente Qualität des Projekts, die Zahl der Bemühungszusagen und die selbstlosen Ammendienste der preiswürdigen Volkswagenstiftung stimmen uns optimistisch, dass unsere Erwartungen, für die jetzt der Präsident der Leopoldina das Wort ergreifen wird, am Ende glücklich realisiert werden können.